Unterrichtseinheit «Erinnern»

Gedenktag an die Opfer des Holocaust

Lernziele:
S I: LP 21, Kompetenzbereich RZG 6.3
S II: Rahmenlehrplan, Richtziele Geschichte, Grundfertigkeit «die historischen Dimensionen der Gegenwart begreifen»


Diese Unterrichtseinheit ist gedacht für den Gedenktag an die Opfer des Holocaust am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945. Sie setzt sich aus Modulen zusammen, von denen jedes einzeln für einen kleineren Anlass (eine Doppellektion) verwendet werden kann; die Unterrichtseinheit kann aber auch zusammenhängend als Schwerpunkt eingesetzt werden.

«Bisher haben aller Filmarbeiten über den Holocaust versucht, diesen aus der Geschichte und der Chronologie herzuleiten: man beginnt 1933 mit der Machtergreifung der Nazis, – zuweilen sogar noch früher mit Ausführungen über den deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert … – und man versucht, Jahr für Jahr, Schritt für Schritt, geradezu harmonisch möchte man sagen, zur Vernichtung vorzudringen. Als wäre die Vernichtung von sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern, als wäre ein solcher Massenmord einfach ableitbar.» (Claude Lanzmann, Booklet zur DVD «Shoah», letzte Umschlagseite)

Von diesem Gedanken geleitet, haben wir diese Unterrichtseinheit nicht in die Nähe der Unterrichtseinheit über den Holocaust angeordnet und bezeichnen hier den Holocaust auch nicht mit diesen gebräuchlichen historischen Fachbegriff, sondern mit dem Begriff Shoah, der seit dem gleichnamigen Film von Claude Lanzmann mit der Erinnerung an den Holocaust verbunden ist (zur Begriffsbestimmung Arbeitsblatt und Erläuterungen).

Trotzdem ist die Kenntnis des Holocaust eine Voraussetzung zur Bearbeitung dieses Kapitels. Ferner bietet die Unterrichtseinheit «Basel im 2. Weltkrieg» zum Aspekt des Erinnerns Material aus der Grenzregion Basel.

Diese Unterrichtseinheit wurde finanziell unterstützt durch die Stiftung «Bildung und Entwicklung» in Bern (im Rahmen der Bildungsprojekte «Rassismusprävention» zur Unterstützung des Gedenktages an die Opfer des Holocaust am 27. Januar) und der Fachstelle Rassismusbekämpfung des EDI. Sie wurde im Sommer/Herbst 2010 verfasst.

Die erste Quelle zu dieser Themeneinheit (Kapitel 1–3) bilden 13 Texte aus dem autobiografischen Lebensbericht von Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. (Göttingen 1992). Der Buchtitel stellt auch das Motto für diese Themeneinheit. es geht darum, zu respektieren, dass die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus weiterleben konnten und mit ihren Erinnerungen weiterleben mussten.

Aktuelle Ausgabe des Buches: Ruth Klüger: Weiter leben – eine Jugend. Wallstein Verlag 2012. ISBN 978-3-8353-2183-0 (epub)

Ruth Klüger protokolliert in ihrem Werk, wie immer wieder andere Erinnerungen, aber auch Verletzungen zu Tage traten – keineswegs nur vergangene, sondern auch neue. Die 13 Textauszüge aus ihrem Werk ziehen eine Verbindung von der Geschichte über die Erinnerung zur Gegenwart.

Die zweite Quelle (Kapitel 4–5) bietet eine kürzere Alternative, aber auch eine Ergänzung, vorzugsweise in Halbklassen mit wechselseitigem Austausch. Es handelt sich um Ausschnitte aus Art Spiegelmans berühmten Comic «Maus».


Kapitel 1: Ruth Klügers Flucht

Die Schülerinnen und Schüler versetzen sich in die Situation von Ruth Klüger im Augenblick ihrer Flucht auf dem Todesmarsch von Auschwitz nach Deutschland. Sie denken sich ihre weitere Geschichte aus und erzählen sie in Ruth Klügers Stil weiter. – Sollte die Zeit nicht reichen (was schade ist), können Sie der Klasse auch einen Vorschlag, wie die Geschichte weiterging, zur Stellungnahme vorlegen.


Kapitel 2: Ruth Klügers Erinnerungen

Wie viel schwieriger Ruth Klügers Geschichte war, arbeiten die Schülerinnen und Schüler in Partnerarbeit an (bis zu) 13 Textauszügen aus ihren Erinnerungen heraus. Sie stellen die Last der Erinnerungen und das Unverständnis der Umgebung der Opfer dar. Diese können die Schülerinnen und Schüler in zwei Halbklassen zusammenstellen. – Sie können das Buch und die Autorin mit dem beiliegenden Material und einem ironischen Lebenslauf von ihr selbst vorstellen. (Es gibt auch eine Ausgabe von Ruth Klügers Erinnerungen von 2008, erschienen im Wallstein Verlag Göttingen, mit einem Hörbuch, in dem die Autorin aus dem Werk liest.)

Kapitel 3: Erinnerungen lassen nicht los

Aufgrund des Austausches über die Erkenntnisse aus den 13 Textauszügen kann im Unterrichtsgespräch eine Synthese gezogen werden, die zeigt, wie komplex und vielfältig die Erinnerungen der überlebenden Opfer, der beteiligten Deutschen und der unbeteiligten Dritten, ja sogar der Vertrauten der Opfer sind. – Vielleicht in Zusammenarbeit mit dem Deutschunterricht können zwei Gedichte der damals 13-jährigen Ruth Klüger im Vernichtungslager Auschwitz behandelt werden.


Kapitel 4: Art Spiegelmans Maus

Diese kürzere Unterrichtssequenz führt ein in den berühmten Comic, in dem Art Spiegelman die Erinnerungen seines Vaters an die Shoah aufarbeitet, gleichzeitig die schwierige Beziehung zwischen ihm und seinem Vater darstellt und bewältigt. Diese beiden Erzählstränge können in den aufbereiteten Comic-Auszügen von den Schülerinnen und Schülern in Halbklassen durchgearbeitet und in Partnerarbeit ausgetauscht werden. In diesem Kapitel steht Ihnen Material zur Einführung in das Werk zur Verfügung. Aktuelle Ausgabe des Comics: Art Spiegelman. Maus. Fischer Taschenbuch 2019, ISBN 978-3-596-18094-3.


Kapitel 5: Ein Comic über die Erinnerungen an die Shoah? Zwei Narrationen

Zwei Erzählstränge mit je rund 8 Ausschnitten fordern die Schülerinnen und Schüler auf, den Comic auf einen Aspekt hin durchzugehen und nachher die beiden Aspekte auszutauschen.

Was geschieht und geschah mit den Erinnerungen? Die Themeneinheit gibt einerseits theoretische Aufschlüsse aufgrund von Gedankenarbeit und gedanklichem Nachvollzug, andrerseits anhand der genauen Betrachtung eines konkreten, sich vor der Kamera erinnernden Überlebenden.

Nach den pragmatischen zwei Arbeiten mit konkreten Erinnerungen in «Erinnern 1» wendet sich diese Themeneinheit kurz der theoretischen Grundlage der Erinnerung zu (Kapitel 1 und 2) und stellt dann die Erinnerungsarbeit eines ehemaligen Sonderkommandohäftlings aus Treblinka II, wie sie Claude Lanzmann gefordert und aufgezeichnet hat, als konkretes und punktuelles, aber exemplarisches Beispiel dafür ins Zentrum, wie sehr Erinnerung schmerzen kann. Dabei wird der Schrecken der Vernichtung in der Gaskammer gestreift, aber Voyeurismus vermieden.


Kapitel 1: Erinnerung an die Shoah

In einem Klassengespräch verarbeiten die Schülerinnen und Schüler einen Gedankenanstoss über das Fehlen von direkten Quellen über die Shoah. Die Einzigartigkeit der Shoah, dass sie gewissermassen auch die Quellen über sich vernichtete, kann in Ansätzen deutlich werden.


Kapitel 2: Schwierige Erinnerung

Dieses eher theoretische Kapitel befasst sich damit, warum für die Überlebenden das Berichten und für die Aussenstehenden das Hören der Erinnerungen an die Shoah so schwierig waren. Durch Bezüge zu ihrer Lebenswelt, ihrem Umgang mit Erinnerungen, können die Schülerinnen und Schüler die Shoah-Erinnerungsgeschichte vielleicht etwas verstehen.

Kapitel 3: Claude Lanzmanns Shoah

Claude Lanzmann, Shoah: Ein 18-minütiger Ausschnitt aus dem Film von neuneinhalb Stunden Dauer wird intensiv darauf hin betrachtet, wie Erinnerung zustandekommt, wie schmerzhaft sie ist und wie viel mehr sie beinhaltet als nur Gedanken und Gefühle. Es handelt sich um die Minuten 16 bis 34 des dritten Films von «Shoah», zu welchem Film Sie ausführliche Informationen erhalten und die Schülerinnen ein auf Deutsch übersetztes Skript sowie zwei Erinnerungen des Regisseurs verarbeiten. Link zum Ausschnitt auf Youtube.

Die Shoah in Erinnerung zu rufen und zu behalten ist schwierig, wie der Umgang mit jeder schweren Erinnerung. Diese Unterrichtsformen befasst sich mit den verschiedenen, teils krass anmutenden Formen von Erinnerungsverzerrungen, die den Schülerinnen und Schülern an möglichst einfachen Beispielen dargestellt werden sollen. Schon die Art, wie man die Shoah bezeichnet, beruht auf Entscheidungen darüber, wie man sich an sie erinnern will. Im letzten Kapitel werden die verschiedenen Verzerrungen miteinander verglichen; es ist dazu nicht nötig, alle Einzelbeispiele behandelt zu haben.


Kapitel 1: Begriff

Wie soll man «die Sache», wie die Juden und Jüdinnen nach 1945 die Shoah zuerst umschrieben, überhaupt benennen? Die Schülerinnen und Schüler entwerfen Vorschläge und erkennen, wie die Bezeichnung mit dem Verbrechen und der Ansicht darüber und der Erinnerung daran zusammenhängt.


Kapitel 2: Fotografie zum Aufstand im Wahrschauer Ghetto

Das Problem der Erinnerung wird hier an einer Fotografie gezeigt, deren historisches Umfeld die Schülerinnen und Schüler möglicherweise bereits kennen. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Veränderung der Aussage durch verschiedene Bildausschnitte und Legenden auseinander. An den Angaben über die Personen erkennen sie, wie Erinnerungen die Geschichte nicht nur stützen, sondern auch konkurrenzieren können. Der Stroop-Bericht, aus dem die Fotografie stammt, ist digital nicht greifbar. Die Fotografien des Berichts können aber auf wikipedia eingesehen werden.


Kapitel 3: Binjamin Wilkomirski

Am Beispiel von Binjamin Wilkomirski, der seine unglückliche Kindheit in Verfolgung und ein Konzentrationslager projizierte und mit seinen «Erinnerungen» grossen Erfolg hatte, erleben die Schülerinnen und Schüler, wie stark Erinnerungen umgedeutet werden können und an die Stelle von echten Geschichten treten. Hinter der unwahren, erinnerten Geschichte eröffnet sich aber dann noch eine wahre, eigentlich nicht minder berührende.

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